Web 2.0: Phantom oder Phänomen?
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Kristina Kaul www.dw-world.de © Deutsche Welle.
Web 2.0: Phantom oder Phänomen? Surfen im "Web 2.0"
Sie gehörten zur New Economy wie das Risikokapital: Typische Hype-Begriffe wie "Community" oder "Interaktivität". Jetzt geistert ein neuer Begriff durch die Online-Welt: Web 2.0. Was steckt dahinter?
Der Tagesablauf eines typischen Web-2.0-Nutzers könnte ungefähr so aussehen: Bevor er das Haus verlässt, lädt er seine Lieblingspodcasts aus dem Netz auf den MP3-Player - frisches auf die Ohren für die U-Bahn. Am Arbeitsplatz lässt er sich per RSS-Feed die neuesten Nachrichten und Einträge aus seinen Lieblingsblogs anzeigen. Seine E-Mail sortiert er schon lange nicht mehr in altmodischen Ordnern, sondern er nutzt den unbegrenzten Speicherplatz und die intuitive Suche von Google-Mail. Bookmarks liegen nicht mehr im Browser, sondern online bei "del.icio.us". Auch seine Dokumente erstellt und verwaltet er nicht mehr lokal mit Word oder Excel, sondern selbstverständlich online über browserbasierte Programme wie Writely.
Zum Nachschlagen reicht das Online-Lexikon Wikipedia, das Restaurant für den Abend findet er über Google-Maps. Dort haben dutzende Internetnutzer schon ihre Lieblingsplätze eingetragen - ihnen vertraut er mehr als den herkömmlichen Restaurantführern. Vor dem Schlafengehen schreibt er noch seine Erlebnisse des Tages in sein Blog und stellt die dazugehörigen Fotos bei Flickr ein.
All das ist Web 2.0 - aber was genau verbirgt sich dahinter? "Web 2.0 ist der Versuch, neue Strömungen im Netz zusammenzufassen und ihnen einen Begriff zu geben", erklärt Florian Rötzer vom Online-Magazin "Telepolis". Tim O'Reilly und Dale Dougherty vom Computer-Fachverlag O'Reilly erfanden den Begriff im Frühjahr 2004. Seitdem hat er sich geradezu inflationär verbreitet. Die Suchmaschine Google spuckt auf eine entsprechende Anfrage etwa 574.000 Einträge allein in deutscher Sprache aus, im gesamten Web sind es mehr als 19 Millionen (Stand: 24.11.2005, vormittags).
Weiterentwicklung oder neue Vollversion?
Die Bezeichnung "2.0" kommt aus der Software-Entwicklung. Kleinere Entwicklungsstufen von Computerprogrammen werden in Zehntelschritten benannt: Der Schritt von Version 1.5 auf Version 1.6 würde beispielsweise nur ein paar Fehlerkorrekturen beinhalten. Der Sprung auf die nächsthöhere Zahl vor dem Komma dagegen kennzeichnet eine grundlegend überarbeitete Version desselben Programms. Doch ist Web 2.0 eine solche grundlegend neue Version des World Wide Web?
Technologien verstärken vorhandene Trends
Der Experte Rötzer ist skeptisch: "Da wird etwas Neues propagiert, ohne dass es wirklich etwas grundsätzlich Neues gibt", sagt der langjährige Beobachter des Internets. "Alles, was mit diesem Begriff beschrieben werden soll, war von vornherein im Internet angelegt." Er räumt aber ein: "Neue Technologien haben bestimmte Trends erleichtert und verstärkt."
Solche Technologien sind beispielsweise RSS-Feeds, Trackbacks oder Permalinks. Sie vereinfachen die Vernetzung einzelner Weblogs zur "Blogosphäre". Ein weiteres Hilfsmittel zum Umgang mit der Masse an Informationen im Web sind so genannte "Tags", frei vergebene Stichworte. Und auch dafür gibt es eine eigene Wortneuschöpfung: "Folksonomy", eine Zusammensetzung aus "Folks" (Leute) und "Taxonomy" (Klassifizierung).
Zum Beispiel bei Flickr, der Blog-Suchmaschine "technorati.com" oder "del.icio.us" verschlagworten die Nutzer ihre Inhalte selbst. Aus den Tags entstehen schließlich so genannte Tag clouds - Wortwolken. Je größer ein Wort dargestellt ist, desto öfter ist es von den Internetnutzern als Tag vergeben worden.
Intuition und Assoziation spielen hier eine entscheidende Rolle. Jedem ordentlichen Bibliothekar müssen sich allein bei dem Gedanken die Fußnägel aufrollen. Ob das System der klassischen Informationsverwaltung tatsächlich überlegen ist, muss sich auf Dauer noch zeigen.
Mehrwert durch Partizipation
Dennoch: Ein wesentlicher Bestandteil des Web 2.0 - Konzepts ist, dass der Mehrwert durch die Partizipation der Nutzer entsteht. Oder anders ausgedrückt: Je mehr Menschen mitmachen, umso besser werden die Ergebnisse. Die "Nutzbarmachung der kollektiven Intelligenz" nennt der Web 2.0-Pionier Tim O'Reilly dieses Phänomen.
Nach dem gleichen Erfolgsrezept funktioniert auch das Online-Lexikon "Wikipedia". Noch lässt die Qualität allerdings teilweise zu wünschen übrig (siehe auch die derzeitige deutschsprachige Version des Eintrags "Web 2.0", Stand: 24.11.2005).
Das Web als Plattform
Wikipedia wird im Netz erweitert und gepflegt und steht beispielhaft für die Idee, das Web als Plattform zu nutzen. Schon gibt es die ersten Büro-Anwendungen wie Writely, mit denen Dokumente ausschließlich über den Webbrowser erstellt und verwaltet werden. Und Google stellt mit GMail einen Webmail-Service bereit, der in punkto Funktionalität nach Meinung vieler seiner Nutzer sogar Mail-Programme wie Outlook hinter sich lässt.
Entsteht eine neue Dotcom-Blase?
Die "Big Player" zeigen inzwischen ein erhebliches Interesse an den kleinen Web 2.0 - Unternehmen. Der Kauf von Flickr durch Yahoo war erst der Anfang, glauben Experten. Schon fühlt sich mancher an die glorreichen 1990er-Jahre erinnert, als alles möglich schien. Rötzer hält sich mit seiner Begeisterung zurück. Auch er kann sich noch gut an die Zeit erinnern - aber auch an das Platzen der Dotcom-Blase nur wenig später. "Von denen, die jetzt das Web 2.0 hypen, waren noch nicht alle damals dabei. Insofern machen mich vielleicht auch das Alter und die Erfahrung etwas zurückhaltender in meiner Euphorie", so der Internet-Veteran. Eine Prognose für die weitere Entwicklung des World Wide Web etwa zu einer "Version 3.0" will er aber erst recht nicht abgeben: Denn er weiß: "Im Netz wird man immer wieder überrascht!"
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