Mittwoch, Dezember 07, 2005

Was Social Software mit Ameisen (und Innovation) zu tun hat

von
http://vnude.typepad.com/itfrontal/2004/09/was_social_soft.html

Was Social Software mit Ameisen (und Innovation) zu tun hat
Wer viel im Internet unterwegs ist und nach neuen Dingen Ausschau hält konnte nicht umhin, in den letzten Monaten das Aufkommen einer neuen Art von Software zu sehen: Programme, wie Flickr und del.icio.us (siehe auch hier), die erstens gewisse Jobs, die man früher strikt lokal auf seinem Desktop-PC erledigt hat, sehr elegant auf Online-Services verlagern. Zweitens werden hier Dinge öffentlich getan bzw. gezeigt, die bislang nur im stillen Kämmerlein bzw. auf meiner privaten Festplatte zu sehen waren. In diesem Fall geht es um Fotoalben (bei Flickr) und Bookmarks (bei del.icio.us)
Das mag der eine oder andere für eine beklagenswerte Form modernen Exhibitionismus halten. Gleichzeitig sind diese Plattformen jedoch IMHO unglaublich effektive Ideenverstärker und Leute-Verbinder. Ich gehe davon aus, dass ähnliche Prinzipien - u.a. das so genannte Tagging, abgestufte Zirkel von Privatheit und Öffentlichkeit und Vernetzungen nach dem Friend-of-a-Friend-Prinzip - in Bälde in einer Vielzahl von neuen Software-Experimenten zu finden sein werden und einige davon einen Riesenerfolg haben werden. Auch im Lummaland machte man sich dazu kürzlich ja so seine Gedanken (siehe Sozialdingensweb).
Das "Verbinden von Menschen und Gedanken", das diese Plattform so gut unterstützen, ist nämlich tatsächlich etwas wirklich Neues (ja, auch etwas neues, anderes, als die Socialnetworking-Plattformen a la Friendster, LinkedIn, Orkut oder das deutsche OpenBC), Sie nutzen zugleich ein uraltes Erfolgsprinzip der Natur, das dafür verantwortlich ist, dass das Ganze manchmal mehr (intelligenter, kreativer, effektiver) ist als die Summe seiner Teile, unter Umständen sogar sehr viel mehr: Bottom-up-Organisation, neuerdings "Emergence" genannt.
Was das ist und wozu das gut ist? Dazu muss ich ausholen (was wieder einen Text ergibt, der zu lang ist, um gut am Bildschirm gelesen zu werden, wie Nico zu recht beklagt) ...
Software mit sozialer KomponenteDie gemeinsame Essenz aller dieser neuen Programme mit "sozialer Komponente" ist der Kontakt und Austausch zwischen räumlich oft weit entfernten Menschen und ihren Ideen. Wobei sich diese Kontaktaufnahme bei weitem nicht so plump und direkt wie Socialnetworking-Plattformen a la Friendster, LinkedIn, Orkut oder im deutschen OpenBC entwickelt. Hier wird nicht gebaggert nach dem Motto "Ich suche, sie bieten ... wollen wir nicht einmal zusammen Geschäfte machen/ins Bett gehen?" Stattdessen tue ich einfach etwas, hinterlasse Spuren dabei (hier zum Beispiel Fotos und Bookmarks) und erlaube anderen, diesen Spuren zu folgen. Wobei Flickr sogar schon Möglichkeiten bietet, einzuschränken, wer diese "Anderen" sind; keiner, Familie, Freunde oder "Alle". (Siehe auch Plädoyer für "halb-öffentliche" Weblogs.)
Das führt zu hochinteressanten Entdeckungen - sowohl bei "Zuschauern" als auch bei den Publizierenden. Man sieht, dass andere Menschen ähnliche Interessen haben, nimmt Ideen und Anregungen - vielleicht sogar Kontakt - auf, und eine Beziehung entsteht. Und aus der Kombination des Inputs der verschiedenen Personen entstehen völlig neue Ideen. Ähnlich wie im Umfeld von Weblogs entstehen Meme (Ideen-Gene, siehe Blogs, Social Software und die Evolution der Ideen), die sich rasant ausbreiten.
Die Gruppe ist kreativer und schneller als jedes Individuum. Eine Erkenntnis, auf die schon mal jemand gekommen ist. Aber – und hier liegt der große Unterschied zu der in den meisten von uns tief verwurzelten hierarchischen Auffassung der Zusammenarbeit in einer Gruppe: am effektivsten ist die Zusammenarbeit, am innovativsten (überraschendsten) die Ergebnisse, wenn es keine zentrale Koordination gibt sondern nur einfache Regeln für die Kommunikation zwischen den Individuen. Und, wenn möglichst viele unterschiedliche Menschen zusamen kommen (siehe Wo und wie gute Ideen wirklich entstehen ...). Das ist "Emergence", das Entstehen von etwas Neuem, teils hochkomplexen aus der ungesteuerten Interaktion vieler einfacherer Einheiten/Individuen.
Emergence in der NaturDas ist in der Natur übrigens schon seit einigen hundert Millionen Jahren bewährte Praxis. Es ist ein schon etwas abgelutschtes Beispiel, dass Ameisenkolonien, Bienenschwärme etc. scheinbar intellektuelle Leistungen vollbringen, die den Betrachter vermuten lassen, dass hinter diesem Verhalten Intelligenz weit über der Kapazität eines Insektengehirns oder zumindest eine zentrale Steuerung steckt. Der biologische Laie vermutet diese Steuerung gelegentlich hinter "der Königin" dieser sozialen Insektenstaaten. Die Forschung hat aber schon vor Jahrzehnten ergeben, dass das eine Illusion ist. Auch das Nervensystem einer Insekten-Königin ist für größere Steuerungsaufgaben viel zu klein. Und Kommunikationsmittel, die einen zentralen Organismus mit allen Mitgliedern des Staates verbinden, gibt es nicht.
Tatsächlich sind es sehr simple Steuerungsprinzipien in Zusammenhang mit einer grossen Zahl von Individuen und in der Kombination mit dem allgegenwärtigen Zufall, die das Verhalten erklärbar machen. Die entsprechenden Forschungen sind alle schon einige Jahrzehnte alt. Wer sich einen schönen Überblick darüber verschaffen möchte, lese Steven Johnsons "Emergence". Faaaazinierend. (Zusätzliche Motivation: Es geht nicht nur um Insekten, sondern auch um Städtebau, Softwareentwicklung, Computer-Spiele etc.).
Wer nicht so gerne liest und lieber herumexperimentiert, lade sich das StarLogo-Paket von Mitch Resnick herunter. (Download hier für nahezu alle gebräuchlichen Rechnerplattformen samt Source). Es erlaubt einfache Simulationen, die deutlich machen, wie einige wenige simple Steuerungsregeln und allersimpelste Kommunikation bei einem „Schwarm“ zu scheinbar intelligentem Verhalten und scheinbar effektiver Zentral-Koordination führen.

Dazu nur ein Beispiel: Das linke Bild vor diesem Absatz zeigt die Ausgangssituation am Anfang einer solchen Simulation. In der Mitte ein Ameisenhügel (violett), darum herum (blau) drei Futterquellen in unterschiedlichem Abstand. Das Bild rechts daneben zeigt eine spätere Situation. Die roten Punkte symbolisieren die Ameisen. Die grünen und weißen Flecken sind von den Ameisen abgesonderte Botenstoffe.
Alle Intelligenz in dieser Simulation ist in einem winzigen 60-zeiligen Programm enthalten, dass die einzelnen Ameisen steuert. Jede davon tut nicht mehr, als
zufällig in der Gegend herumrennen
einen Botenstoff absondern, sobald sie Futter gefunden hat
sich mit dem Futter zurück zum Nest zu bewegen
sobald sie den Botenstoff anderer Ameisen "riecht" sich bevorzugt in Richtung stärkerer Konzentrationen zu bewegenDas reicht, um in wenigen Zyklen die typischen Ameisenstrassen entstehen zu lassen und über diese die Futterquellen abzuernten, Um das Verhalten von Bakterien bei der Zusammenklumpung zu größeren Gruppenorganismen zu simulieren, genügen weniger als 50 Zeilen Logo-Code. Um Vögelschwärme synchron fliegen zu lassen, 35 Zeilen. Wohlgemerkt: es handelt sich immer nur um Code, der das Verhalten eines Individuums steuert. Eine zentrale Koordinierung existiert nie.
Mehr ist nicht mehr - Mehr ist anders!Das zeigt sehr deutlich, dass recht komplexes scheinbar zielorientiertes Verhalten möglich ist, wenn sehr simple Einzelkomponenten nach einfachen Regeln miteinander interagieren. Wobei für dieses Verhalten zwei Dinge entscheidend ist: einmal grundsätzlich die Kommunikation in Form des Hinterlassens von Spuren, zweitens die Lebensdauer dieser Spuren (Botenstoffe). Ohne Hinterlassen von Spuren (Kommunikation) kommt es naturgemäß nicht zu "sozialem" Verhalten, also Verhaltensmustern, die über die im einzelnen Individuum enthaltenen Regeln hinausgehen – und die von diesen Regeln allein nicht erklärt werden können. Und je länger und dauerhafter diese Spuren sind, desto schneller bildet sich soziales Verhalten aus, desto komplexer ist das Gruppenverhalten. Dasselbe gilt für die Anzahl der kommunizierenden Individuen. Kommunikation führt fast immer zu Komplexität. Wenn aber mehr Individuen beteiligt sind, entstehen oft ganz andere Formen des Zusammenwirkens. In den oben beschriebenen StarLogo-Simulationen bilden sich unterhalb einer gewissen Anzahl von Individuen oder unterhalb einer gewissen Dauerhaftigkeit der Spuren oft keine klare Struktur oder scheinbar intelligentes Verhalten heraus. Ab einer bestimmten Anzahl "zündet" die Selbstorganisation auf einmal. Und eventuell gibt es bei noch größeren Zahlen auf einmal ganz andere Verhaltensmuster.
Emergence „skaliert“ nicht linear. Sondern bei bestimmten "Sprungstellen" entsteht immer wieder wirklich neues – nicht nur das Selbe in größerem Maßstab. Mehr ist nicht einfach mehr. Mehr ist anders!
Emergence, Innovation und Softwareplattformen mit "sozialer Komponente" Ähnliches passiert auf den "sozialen" Softwareplattformen. Wir hinterlassen Spuren, andere nehmen diese Spuren auf. Unter Umständen sehr viele Andere. Gruppen entstehen spontan, die unter Umständen gemeinsam ein Thema bearbeiten, neue Ideen und Lösungsansätze "anziehen". Diese Gruppen lösen sich unter Umständen wieder auf. Die Mitglieder finden sich neu zu anderen Gruppen zusammen. Und aus der gegenseitigen Befruchtung entstehen neue Formen und Ideen, die eine Person alleine nie – und schon gar nicht mit zielorientierter Steuerung - hätte entwickeln können. Und die verbreiten sich mit der typischen Rasanz webbasierter Meme.
Das ist der wahre Vorteil der neuen sozialen Softwareplattformen (und auch von Weblogs, die ähnliches in thematisch nicht so eng fokussierter Form schon ein paar Jahre länger praktizieren): sie sorgen dafür, dass Anregungen, Ideen, Entdeckungen etc. viel schneller entstehen und zirkulieren. Und sie erlauben das vor allem ohne die Notwendigkeit einer zentralen Steuerungsinstanz.
Das ist nicht nur für das Web als Ganzes interessant. Jedes Unternehmen, das Wissensmanagement verbessern und seine Innovationskraft stärken möchte, täte gut daran, sich diese Prinzipien und die schon existierenden Tools einmal in Ruhe anzusehen. Wer, weiß welche Wirkung es hat, wenn alle im Web aktiven Mitarbeiter ihr Bookmarks gemeinsam verwalten? Oder, wenn die Artikel aus der relevanten Fachpresse von möglichst vielen Mitarbeitern kurz kategorisiert (getaggt) und bewertet werden? Ich weiß nicht, was dann passieren wird. Aber, dass gelegentlich etwas unvorhergesehenes Neues passiert und zumindest gute Ideen sich viel zügiger verbreiten – dessen bin ich mir sicher!
Autor: Markus Breuer, Notizen aus der Provinz
September 28, 2004 in INTERNET, SOCIAL NETWORKING Permalink
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Buchtipp dazu: Steven Johnson, "Emergence: The Connected Lives of Ants, Brains, Cities and Software"http://www.amazon.de/exec/obidos
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Kommentiert von: Adalbert Duda 15.10.2004 11:39:20