Dienstag, Dezember 06, 2005

Die Zukunft des Webs/Wir sind das Netz

von www.sueddeutsche.de

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Kaum eine Woche vergeht ohne dass Google, Yahoo oder MSN neue Dienste ins Netz ankündigen oder vorstellen. Allmählich werden dahinter die Konturen eines neuen Internets sichtbar: „Web2.0“. Aber was erwartet uns da eigentlich? Von Ingo Arzt -->

Man kann sich das Internet zum Beispiel so vorstellen: Ein Mensch sitzt vor seinem PC, der meist mit dem Betriebssystem Windows und ein paar Gigahertz Rechenleistung ausgestattet ist. Dann kommt ein Kabel, durch das Datenpakete rauschen, und am anderen Ende beginnt eine gigantische Datenbank namens Internet.Charlene Li, Internet-Analystin bei Forrester Research, sieht das anders: Eigentlich haben wir alle Terahertz schnelle Rechner und Petabyte große Festplatten auf dem Schreibtisch, so ihre These auf der web2.0–Konferenz in San Francisco. Thema der Veranstaltung: Die Zukunft des Internets. Li weiter: Wir surfen so viel, dass sich die Grenze zwischen Desktop-PC und Internet immer weiter verwischt.Alles ein Frage der Perspektive. Für Tim O'Reilly zum Beispiel, den Chef des gleichnamigen Fachbuchverlages, gibt es nur noch Linux-Nutzer: Jeder, der im Netz surfe, tue dies mit Hilfe des freien Betriebssystems, erklärte er in Frisco.Mit jedem Klick bei Google oder Yahoo benutzen wir Linux, denn damit steuern die beiden größten Suchmaschinen ihr Imperium. Was Windows dazu beiträgt, ist O’Reilly zufolge fast nebensächlich: Bei der Leistung, die wir im Netz via Breitband-Verbindung abrufen, scheint der Desktop-PC nichts als ein Monitor mit Mauszeiger zu sein.
Der Leser schreibt mit
Auch das Bild der weltweiten Datenbank ist nicht nur nach Lis und O’Reillys Ansicht längst überholt. Dank (Video)-Blogs, Wikis, Podcasts, Rezensionen oder öffentlichen Favoritenlisten gibt es im Internet keine Trennung mehr zwischen denen, die Inhalte schaffen und denen, die Inhalte konsumieren. Will man das Web als Bibliothek beschreiben, dann als eine, in der jeder Leser an den Büchern mitschreibt. Das alles ist nicht auf einmal aufgetaucht, weshalb Tim O'Reilly in einem Essay über das von ihm geprägte Wort „web2.0“ auch von einer Evolution statt einer Revolution des Web spricht. Doch diese Evolution hat in der Zwischenzeit eine Dynamik entwickelt, die auch die Dinosaurier der Branche beunruhigt.
Eine Geisteshaltung
Bei der diesjährigen web2.0-Konferenz versammelten sich erstmals alle Internet-Größen wie Yahoo, Microsoft, Ebay, Amazon, Google, Sun, Apple oder AOL, meist in Person ihrer Chefs, gemischt mit Startups, die mit neuen Ideen auf den Markt drängen. „Die Großen haben erkannt, dass sie sich anpassen müssen“, sagt Charlene Li. Doch was soll das nun sein, web2.0? Eine neue Version, ab morgen zum download? Die Definitionen sind so vielfältig wie die Interessen. „Es ist am ehesten eine Geisteshaltung“, wie O’Reilly schreibt.Geht es nach Yahoo-Chef Terry Semel, bedeutet es für den Surfer in freier Wildbahn: Du machst das Web. „Benutzer-generierte Inhalte“ seien für ihn das Wichtigste überhaupt. „Social Software“ heißt dabei das Stichwort, Beispiel „Yahoo 360 Grad“: Eine Gemeinschaft von 160 Millionen Usern soll mit einem kinderleicht zu bedienenden Interface alles zusammenklicken und untereinander vernetzen können, was sie für wichtig halten - in allen Ausdrucksformen, die das Netz kennt: Ton, Bild, Video, Text.
Leichtgewichte
Für den Web-Dienstleister heißt das, solche Inhalte genauso ernst zu nehmen, wie professionelle Inhalte. Yahoo verfolgt diese Strategie konsequent: Bei der News-Suche gibt es neuerdings neben eine Trefferliste aus Inhalten professioneller Medien auch eine mit Blog-Einträgen.Auch in der Software-Entwicklung deutet sich ein Umbruch an. Jason Fried fragt zum Beispiel, warum Office-Programme unendlich viele Funktionen haben, die ohnehin kaum jemand nutzt. Er hatte die Idee zu „Lightweight Applications“, schlanke Programme mit wenigen Funktionen.

Grundlage des Geschäftsmodells ist die OpenSource–Welt, in der kleine, flexible Teams auf der ganzen Welt verstreut an den Modulen eines Programms arbeiten. Das soll bei den „Lightweight Applications“ auch der Fall sein, nur dass hier kein starres Programm entsteht, sondern sich jeder nach dem Legokasten-Prinzip aus den kleinen Programmen selbst die Software zusammenstellt, die er braucht.
Beispiel Gmail
Analysten wie Charlene Li sehen auf diesem Weg dem klassischen Desktop-Programm ernsthafte Konkurrenz erwachsen. Warum, so fragt sie, soll man den Computer auf dem Schreibtisch mit teurer Software vollstopfen, wenn es immer mehr Dienste im Internet gibt?

Kostenlose Kartendienste wie „google earth“ oder „yahoo maps“ seien erst der Anfang einer Welle neuer „Software Services“. Sie sind auch von mobilen Geräten nutzbar - „zur Not auch von ihrer Armbanduhr“, sagt Li. Hauptsache, eine Verbindung zum Netz besteht. Google lieferte mit Gmail in diese Jahr ein Beispiel: Der Online-E-Mail-Dienst ist wie herkömmliche Dienste von überall aus erreichbar, bietet aber die gleich Fülle an Funktionen wie Desktop-E-Mail-Programme. Bei so viele Veränderung ist in den meisten Blogs von einer geradezu enthusiastischen Stimmung auf der web2.0-Konferenz zu lesen: Viele erinnern sich an die Gründertage des Internets Anfang der 90er Jahre, als all die milliardenschweren Unternehmen von heute kleine Startups mit seltsamen Ideen waren.

Solche Firmen werden heute allerdings von den großen geschluckt, sobald ihre Dienste von Interesse sind: Yahoo kaufte kürzlich Flickr.com, und upcoming.org, Google hat sich dodgeball.com geschnappt.Es geht eben um viel Geld. „Wir werden neue, clevere Wege finden, um Geld aus diesen Seiten herauszuholen“, sagte etwa Terry Semel auf der Konferenz, wohl im Hinblick auf die zahlreichen Investoren, die sich dort nach Anlagemöglichkeiten umgetan haben.Geld, das sind beispielsweise Informationen. Gmail etwa, so sagen Datenschützer in Deutschland, sei kaum mit Artikel 10 des Grundgesetzes vereinbar, dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses. In der Betaversion durchsucht Gmail sämtlich E-Mails, um kontextbezogene Werbung einblenden zu können. Auch Yahoo verdient sein Geld letzen Endes damit, aus den User-Daten Werbeangebote zu schneidern. „Web Services bezahlen Sie nicht mit Geld, sondern mit persönlichen Informationen“, sagt Charlene Li und fügt hinzu, dass ihrer Meinung nach die Firmen verantwortungsvoll mit den Daten umgehen würde. Vertrauen sei schließlich das wichtigste Kapital. So sei es durchaus denkbar, dass Google irgendwann auch IP-Telefonate über Google Talk nach Stichworten durchsucht, wenn man entsprechende Suchanfragen stellt. So kann man sich das Internet natürlich auch vorstellen.