Donnerstag, März 02, 2006

Die dunkle Seite des Web 2.0

von tagesschau.de

Die dunkle Seite des Web 2.0

Das Ende der Privatsphäre
Weblog-Schreiber lassen sich im Internet über ihre Hobbys und Chefs aus. Auf Netzwerk-Plattformen können ganze Freundes- und Kollegenkreise der Mitglieder erklickt werden. Online gespeicherte Fotos verraten, wo man den letzten Urlaub verbracht und wie man sich dort benommmen hat. Viele neue Webdienste basieren als "soziale Software" auf Informationen, mit denen ihre Nutzer sie füttern. Machen sie sich damit durchsichtig, ohne auf mögliche negative Folgen zu achten?

Von Fiete Stegers, tagesschau.de


[Bildunterschrift: Internetnutzer machen sich durchsichtig - viele mehr, als sie denken]
Martin Röll teilt Internet-Nutzern nicht nur seine Telefon-, Fax- und Handynummer, seine ICQ- und Skype-Namen mit: Vom 3. bis 5. Februar ist er auf einem Workshop in Bamberg, vom 14. bis 16. auf einer Messe in Karlsruhe, verrät sein Weblog. Auch ob er momentan online ist, ist angegeben. "Ich mache mich durchsichtig. Aus gutem Grund - weil ich davon profitiere", erläutert Röll, IT- und E-Commerce-Berater in Dresden. So könnten ihn potenzielle Kunden auf Veranstaltungen ansprechen. Der öffentliche Reiseplan stieß in Rölls Bekanntenkreis anfangs auf Skepsis: "Die Leute haben befürchtet, dass Einbrecher bei mir einsteigen, wenn ich nicht zu Hause bin. Doch dafür fehlen einfach entscheidende Daten, zum Beispiel ob unter meiner Adresse noch jemand anderes wohnt - ich könnte ja auch in einer Zwölfer-WG wohnen."

Er wisse schon ziemlich genau, welche Informationen er im Netz preisgebe, sagt Fachmann Röll - im Gegensatz zu manch anderem Internet-Nutzer. "Manche Leute gehen schon sorglos mit dem eigenen Namen um. Wir hinterlassen immer Spuren - und sei es in einem Fanforum von ‚Tokio Hotel’."


[Bildunterschrift: Constanze Kurz ist Informatikerin und im "Chaos Computer Club" aktiv]
"Viele sind sich dessen gar nicht bewusst", meint die Informatikerin Constanze Kurz von der Berliner Humboldt-Universität. "20 bis 23 Jahre alt" sind die Studenten in ihren Seminaren - eine Generation, die mit dem Internet groß geworden ist - und dabei "erstaunlich unbefangen" mit ihren persönlichen Daten umgeht, wie Kurz beobachtet. Wer jedoch auf einer privaten Homepage oder in Diskussionsforen von einem bestimmten Produkt schwärmt, über den Nachbarn lästert oder durch entsprechende Nachfragen Hinweise auf eine Krankheit gibt, muss längst damit rechnen, dass potenzielle Arbeitgeber oder andere Neugierige mit einer einfachen Internet-Suche darauf stoßen. "Das zeigt dem Personalchef doch nur: Der Mitarbeiter hat ein Privatleben", zeigt sich Röll unbesorgt. Die Informatikerin Kurz warnt dagegen vor den Folgen, wenn etwa Bewerbern verfängliche Partyfotos oder politische Meinungsäußerungen aus der Vergangenheit vorgehalten werden können.

Dafür müssen die Betroffenen noch nicht einmal selbst eine Homepage oder ein Blog haben: "Eine einzige Namensnennung im Blog eines Freundes genügt, und die Anonymität ist vorbei. Auch über die Links zwischen einzelnen Seiten könnten Rückschlüsse auf Beziehungen gezogen werden" meint Kurz. Wer in seiner Wunschliste bei Amazon und als Ebay-Verkäufer den gleichen Nutzernamen verwendet, lässt Rückschlüsse auf sein Konsumverhalten zu.

Viele sehen Blogs nicht als öffentliche KommunikationWie viele neue Dienste, die unter den Stichwörtern "Web 2.0" oder "soziale Software" nur unscharf zusammengefasst werden können, basieren Blogs auf starker Vernetzung, persönlichen Kommentaren und Personalisierung. Kurz: "Beim Fotodienst Flickr gibt es inzwischen Sammlungen mit tausenden von Privatbildern, auf denen man ein ganzes Leben verfolgen kann - bei Babys teilweise seit der Geburt". Und auch unbeschriftete Bildinhalte werden langsam aber sicher durchsuchbar: Die Suchmaschine Riya.com arbeitet bereits daran. Anderswo werden Daten mit realen Orten verknüpft - durch Flickr-Ortsmarken, den Google-Kartendienst, GPS-Koordinaten oder den Service Plazes.com, bei dem Nutzer öffentliche WLAN-Hotspots klassifizieren und so Gleichgesinnte finden können.


[Bildunterschrift: Bei "Plazes" wird angezeigt, wo sich die Nutzer eingeloggt haben]
Gerade Blogs würden wegen ihrer Link- und Kommentarmöglichkeiten von vielen Nutzern eher als Form der persönlichen Kommunikation, nicht als öffentliche Äußerung betrachtet, sagt der Kommunikationssoziologe Jan Schmidt, der an der Universität Bamberg "Praktiken des Bloggens" in Deutschland untersucht hat.

"Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatleben verschiebt sich", konstatiert Schmidt. Mit dem neuen Medium würden sich auch neue Routinen herausbilden. Das meint auch Plazes-Betreiber Stefan Kellner: "Unsere Mitglieder entscheiden selbst, wieviel sie preisgeben." Die meisten Nutzer wählten eine Form der begrenzten Privatheit - wie IT-Berater Röll in seinem Weblog. Dass im Web 2.0 verstreute Daten zusammengeführt und ausgewertet werden können - etwa für Werbezwecke - befürchtet Röll nicht: "Ich sehe kein Geschäftsmodell, für das sich die Überwachung lohnt. Informatikerin Kurz ist dagegen überzeugt, dass sich früher oder später alles automatisch auswerten lässt: "Die Nutzer können entscheiden, was sie ins Netz packen - aber nicht, wer es speichert. Firmen, die damit Geld verdienen wollen, ersticken nicht an den Daten."

Spektakuläre Fälle werden neue Grenzen definierenZunächst werden wohl Einzelne die Folgen dessen zu spüren bekommen, was sie selbst oder andere über sich im Netz preisgeben haben. In den USA gab es bereits Fälle, bei denen Unternehmen bloggende Mitarbeiter belangen wollten oder jemand sich auf einmal im Online-Lexikon Wikipedia als angeblichen Hintermann des Kennedy-Attentats wiederfand. "Ich bin mir sicher, dass wir auch in Deutschland spektakuläre Fälle erleben werden", erwartet Soziologe Schmidt. "Welche Grenzen sich bilden, hängt dann von den Reaktionen ab." Eines ist sicher: "Es wird immer schwieriger, im Netz anonym zu bleiben", sagt IT-Berater Röll, der inzwischen schon wieder neue Reisepläne in seinem Blog bekanntgibt.